Folge 21: Rehabilitation wahrnehmen – bei MS

Herzlich Willkommen, Prof. Rieckmann! Vorstellung und Einführung in das Thema: Rehabilitation bei MS.

Angy [00:00:00] Herzlich willkommen zu „Sprich's aus! Bei MS“. Mein Name ist Angy Caspar und gemeinsam mit meinen Gästen sprechen wir in diesem Podcast über die Krankheit der 1000 Gesichter. Hör rein, wenn du mehr über ihre inspirierenden Geschichten und Erfahrungen zu dem Umgang mit der Erkrankung im Alltag erfahren möchtest. Denn bei MS kann man eine Menge machen. Viel Freude beim Zuhören.

Angy [00:00:31] Herzlich willkommen zu unserer neuen Folge von „Sprich's aus! Bei MS“. Ich freue mich, dass ihr wieder dabei seid. In diesem Podcast sprechen wir über Themen rund um Multiple Sklerose, tauschen Erfahrungen aus und geben Tipps für das Leben mit MS. Mein Gast ist heute Prof. Dr. med. Peter Rieckmann. Herzlich willkommen und schön, dass Sie da sind.

Prof. Rieckmann [00:00:51] Hallo.

Angy [00:00:52] Hallo. Sie sind Neurologe und Chefarzt am Medical Park Loipl in Bischofswiesen und das liegt unweit der Grenze von Österreich, wenn ich mich richtig informiert habe. Ihre Klinik wurde vom Magazin „Focus“ sogar als Top-Rehaklinik für Neurologie ausgezeichnet, mit besonderer Expertise in der Betreuung von Risikopatient:innen. Ja, und da sind wir auch schon fast bei unserem heutigen Thema: Wir werden darüber sprechen, wann eine Rehabilitation bei MS sinnvoll ist, was sie leisten kann und was eben auch nicht. Ja, und gleich schon vorab zur Info für unsere Zuhörenden: Wir werden Prof. Rieckmann ein weiteres Mal zu Gast haben und uns dann ganz dem Thema Arzt-Patient-Kommunikation und Miteinander Sprechen bei MS widmen. Ich freue mich, Sie heute bei uns zu Gast zu haben und bitte Sie, sich doch einmal kurz unseren Zuhörenden vorzustellen.

Prof. Rieckmann [00:01:49] Ja, schönen guten Tag. Ich freue mich heute bei Ihnen sein zu dürfen. Mein Name ist Peter Rieckmann. Ich bin seit 2017 hier Chefarzt in der Klinik für Neurologie am Medical Park Loipl, Deutschlands höchstgelegener Klinik – da kommen wir vielleicht später auch nochmal drauf zurück. Und mein beruflicher Werdegang ist eigentlich seit Mitte der 80er-Jahre, wo ich die Ausbildung zur Neurologie begonnen habe, seinerzeit in Göttingen, sehr stark geprägt von der klinischen Forschung und auch der Betreuung von MS-Patienten. Das zieht sich in verschiedenen Stationen wie ein roter Faden durch mein Berufsleben durch. Wie gesagt, erst begonnen in Göttingen, dann am NIH in den USA, dann in Würzburg. Das war damals in den 90er-Jahren so das Zentrum der MS-Forschung in Deutschland an der Universitätsklinik und dann drei Jahre in Vancouver in British Columbia, Kanada mit einer sehr interessanten Tätigkeit und dann letztendlich über die Zeit als Chefarzt in einer Akutklinik: Akademisches Lehrkrankenhaus in Bamberg. Jetzt, wie gesagt, seit 2017 mit der neuen Aufgabe: innovative Rehabilitationskonzepte hier für Medical Park in Loipl – ich sage immer ganz gerne der Appendix, der Wurmfortsatz der Republik, weil es ja wirklich so im Berchtesgadener Land eingekuschelt liegt, aber man kann es auch anders betrachten: im Zentrum Europas, also in der Nähe zu Österreich.

Prof. Rieckmann erzählt, was ihm an seinem Beruf besonders gefällt.

Angy [00:03:23] Ja, vielen herzlichen Dank für Ihre Vorstellung. Ich kann mir vorstellen, dass die Lage auf jeden Fall sehr, sehr schön ist, wo Sie arbeiten und möchte trotzdem mal mit der Frage einsteigen, was Sie denn besonders an Ihrem Beruf mögen?

Prof. Rieckmann [00:03:38] Also ich habe mich sehr früh für das Nervensystem interessiert. Ich fand es faszinierend, was wir alles leisten können mit unserem Gehirn, mit den Sinnen, mit den Möglichkeiten, das einzusetzen. Das hat sich vielleicht auch so ein bisschen in meinen damaligen Interessen, Hobbies, die ich in der Jugendzeit hatte widergespiegelt. Das war auf der einen Seite Sport, auf der anderen Seite Musik. Beides Dinge, die sehr stark mit dem Nervensystem in Zusammenhang stehen. Und dann war eigentlich schon relativ früh, als ich die Ausbildung im Medizinstudium gemacht habe, klar, dass das etwas ist, was ich später auch beruflich machen möchte. Da kam das zweite Interesse hinzu: die Immunologie, weil es auch dort immer hieß, es ist ein immunologisches Gedächtnis und da ist einfach die Schnittstelle eine neuroimmunologische Erkrankung. Und so kam ich dann letztendlich zur Multiplen Sklerose. Man muss auch sagen, ich hatte das Glück, seinerzeit in Göttingen, in einer, wie ich es retrospektiv immer gerne sage, drei Generationen-Gruppe, sozusagen als Neuling, als Assistenzarzt damals, mit dieser Thematik bekannt zu werden. Frau Prof. Poser und Herr Prof. Bauer, der emeritierte frühere Chef in Göttingen, waren beide lange über Jahrzehnte die führenden Köpfe der MS-Forschung und auch letztendlich der Betreuung innerhalb Deutschlands. Und das war für mich ein Glück, dass ich da meine Ausbildung beginnen konnte.

Prof. Rieckmanns Tätigkeit im Bereich Rehabilitation unter dem Gesichtspunkt der klinischen Neuroplastizität im Medical Park Loipl-Bischofswiesen.

Angy [00:05:11] Ja, in Ihren Verantwortungsbereich fallen ja unter anderem der Aufbau innovativer Rehabilitationsstrategien und die Fortführung bewährter Therapieformen. Bitte erläutern Sie uns doch mal etwas genauer, womit Sie sich genau beschäftigen.

Prof. Rieckmann [00:05:26] Ja, ich habe, wie gesagt, 2017 das Angebot bekommen hierher zu kommen und habe diese Klinik das erste Mal gesehen in einer Lage, die mir nicht ganz unbekannt war, weil ich auch schon als Kind das Berchtesgadener Land zum Wandern, damals sozusagen in den 70er-Jahren, kennengelernt hatte und fragte mich, wo denn wohl diese Klinik gelegen ist. Dann kam ich hier auf die Hochebene im Berchtesgadener Land, eingebettet in ein wunderschönes Bergpanorama. Und habe dann auch bei der ersten Vorstellung ein sehr gut interdisziplinär arbeitendes und sehr erfahrenes Therapeutenteam kennengelernt und habe gesagt: „Das ist super, das ist das A und O für eine Rehabilitationsklinik, dass die Therapeuten wissen, was sie tun, dass sie aber auch offen sind für neue Dinge.“ Das war für mich sozusagen die Grundvoraussetzung, wo ich gesagt habe: „Alles andere drumherum kann man verändern, kann man bauen, aber das Therapeutenteam ist zentral für die Rehabilitation“, und gerade auch unter dem Gesichtspunkt, wie wir das dann innerhalb der ersten zwei Jahre hier herausgearbeitet haben, nämlich Rehabilitation nach den Gesichtspunkten der klinischen Neuroplastizität.

Die Besonderheiten einer Reha für MS Patien:innen und worauf geachtet werden sollte.

Angy [00:06:45] Also eine Reha, so klassisch, kennen ja viele von uns so als Therapie, um den Status Quo wiederherzustellen. Das heißt, zum Beispiel nach einem Unfall. Und bei MS ist es ja so, dass es nach aktuellem Forschungsstand weiterhin als chronisch gilt, das heißt also nicht heilbar. Was kann denn eine Reha bei MS-Betroffenen bewirken?

Prof. Rieckmann [00:07:05] Ja, zunächst erkläre ich vielleicht noch mal etwas näher diesen Aspekt der Plastizität: Wieso haben wir uns dann auch letztendlich „Zentrum für klinische Neuroplastizität“ genannt? Aufgrund der Tatsache, wie Sie es eben schon in Ihrer Frage ganz richtig angedeutet haben: Die klassische Rehabilitation kommt ja aus dem Lateinischen rehabilitare, das heißt: „wiederherstellen“ und wendet sich im Prinzip den chirurgischen oder orthopädischen Krankheitsbildern zu. Also da ist ein klar umschriebener Schaden, der Knochen ist gebrochen, wird wieder zusammengeflickt und es muss dann ein entsprechender Aufbau der Belastung durchgeführt werden. Das kann man in zeitlichen Dimensionen, in dem Schweregrad der Belastungen, in Kilogramm sehr genau festlegen. Ähnlich bei dem orthopädischen Gelenkersatz, Winkelgrade abmessen, das ist sozusagen der klassische Ansatz. Bei Schädigung des Nervensystems allgemein ist es oft wesentlich komplexer, dass ein Schaden nicht unbedingt immer die gleichen Auswirkung hat, sondern je nachdem, wie das individuelle Nervensystem entwickelt ist. Und da besonders eben das Gehirn, was ja ganz gezielt als ein zentrales Organ auch bei der Multiplen Sklerose im Zentrum steht, wissen wir, dass jeder Patient unterschiedliches Potenzial mitbringt, was wir gezielt einsetzen, um den eingetretenen Schaden durch entsprechendes Training zu kompensieren oder in einem gewissen Maße auch – das wissen wir heute, ist möglich – durch neue Verbindungen, also synaptische Plastizität, wenn neue Nervenbahnen sich verbinden, letztendlich auch zu reparieren. In einem gewissen Umfang ist das möglich. Und das ist vielleicht auch das Neue, was wir heutzutage bei der Rehabilitation bei MS-Patienten erreichen können. Das wir immer dann wesentlich mehr an Verbesserung erreichen, wenn auch die entzündlichen Aspekte der Erkrankung gut kontrolliert sind. Deswegen muss man das so sehen, dass eigentlich bei der Multiplen Sklerose, besonders eben bei denen, die mit entzündlichen Komponenten, also vorwiegend dem schubförmigen Verlauf, einhergehen, da ganz wesentlich auch der Aspekt, wie gut ist die Erkrankung von medikamentöser Seite, also immunmodulatorische Therapie, eingestellt. Wann immer das optimal ist, also wenn die Entzündung wirklich in den Hintergrund gedrängt ist, dann kann das Gehirn plastisch sich wieder aufbauen und das ist der ideale Zeitpunkt für eine Rehabilitation.

Die passende Therapieform für Patient:innen und die fünf Komponenten, die bei einer Therapie berücksichtigt werden sollten.

Angy [00:09:45] Ah, okay. Es ist ja so, dass ich in unserer Podcast-Reihe hier sowohl mit Betroffenen als auch mit medizinischen Fachgruppen spreche, so wie heute auch mit Ihnen. Eine Aussage, die ich immer wieder höre, ist: „MS ist bei jedem Menschen anders und eine MS verläuft nie gleich.“ Da kann ich mir vorstellen, dass es das für Sie als Arzt natürlich auch nicht immer einfach macht, da eine geeignete Reha-Therapie für eine Patientin, einen Patienten zu finden. Wie gehen Sie denn da genau vor?

Prof. Rieckmann [00:10:14] Wir haben verschiedene Komponenten in diesem Konzept der klinischen Neuroplastizität, die wir auch individuell bei jedem Patienten versuchen zu berücksichtigen. Das sind im Wesentlichen fünf Komponenten. Ich kann die vielleicht mal kurz erläutern, die dabei eine Rolle spielen. Das Erste ist zunächst einmal etwas, was enorm wichtig ist: die Motivation, die auch ganz eng verbunden ist mit den Zielen, die ich für eine Reha habe. Also das Erste, was wir immer fragen, ist: „Was wollen Sie erreichen?“ Und dann ist es natürlich auch wichtig in diesem Anfangsgespräch die Ziele manchmal mit der Realität abzugleichen. Also wir können natürlich nicht, wenn jemand schon sehr, sehr lange in einer bestimmten Einschränkung ist, sagen, dass wir das innerhalb von einem vierwöchigen Rehabilitationsaufenthalt jetzt komplett wieder verbessern können. Wir können aber viele verschiedene Faktoren berücksichtigen, die bei MS-Patienten zum großen Teil eben letztendlich ein großes Potenzial sehen lassen, ohne dass die Patienten das oft merken. Das liegt zum Teil daran, dass viele MS-Patienten und das ist unsere Erfahrung, nicht nur, aber da haben wir es besonders gemerkt, während der Corona-Pandemie, sondern ganz unabhängig davon, meistens unterhalb dessen, was sie eigentlich leisten können, sich bewegen, trainieren oder aktiv sind. Und das hängt mit verschiedenen Faktoren zusammen. Zum einen auch in gewisser Weise über Jahrzehnte, eigentlich von uns als Neurologen auch falsch rübergebracht, falsch übersetzt. Zum damaligen Zeitpunkt war es oft so, dass man gesagt hat: „Oh oh, bei MS bitte nicht überanstrengen. Das kann die Erkrankung verschlechtern.“ Das ist heutzutage gesehen komplett nicht richtig, aber da kommen natürlich neue Erkenntnisse hinzu, die uns zeigen, dass bei einer bestimmten Form der körperlichen Aktivität, wir durchaus das Regenerationspotenzial beim Patienten fördern. Und das heißt, dass man durchaus in einer bestimmten Weise trainiert, wie viele MS-Patienten das noch gar nicht so kennen, die noch nicht zur Reha waren, dass man nämlich durchaus hochfrequent, also mit hohen Wiederholungen, eben nicht nur zehn, 20-Mal etwas macht, sondern 100, 150-Mal etwas ausführt, weil erst dann das Gehirn beginnt diese neuen Verbindungen zu knüpfen. Und das ist der zweite Punkt in diesem Konzept. Ich habe jetzt ein bisschen weiter ausholt, also das Erste ist die Motivation, das Zweite ist Repetition, Wiederholung und das Dritte ist Training allgemein. Und da geht es letztendlich nicht nur um Ausdauertraining, sondern auch durchaus um hochintensives Intervalltraining. Also eine Form des Trainings, wo man entweder auf dem Fahrrad, Ergometer, auf dem Laufband oder auch wenn man Einschränkung in den Beinen hat, durchaus auch mit dem Handergometer, also mit den Armen kann man diese Bewegung auch durchführen, wo sich abwechselnd Ausdauerleistung plus hochintensive, also wirklich, wo man merkt: „Poah, jetzt komme ich aber an meine Grenzen, komme ins Pusten.“ Kurzfristige Intervalle, die dazu führen und das ist vielfach jetzt auch publiziert worden, dass wirklich Funktionen sich danach verbessern. Und die Zusammenhänge sind zum einen, dass bestimmte Faktoren in der Muskulatur produziert werden, die zum Beispiel Hirnstützende oder neuroprotektive Eigenschaften haben und auch in der Regeneration eine Rolle spielen. Also das sind die ersten drei Komponenten, die dabei wichtig sind. Dann kommt noch etwas hinzu, was wir auch dem Patienten empfehlen, mit einzusetzen, und zwar die Stimulation des Gehirns, also das Gehirn vor einer Anwendung, vor einer Physiotherapie, Logopädie oder Ergotherapie in einen optimalen Zustand zu versetzen, was man zum Teil medikamentös machen kann. Da gibt es auch verschiedene Untersuchungen oder am einfachsten: durch Musik. Wir wissen, dass Musik, individuelle Musik, die einem gut gefällt und zu der man in Stimmung kommt sozusagen, den Level oder den Spiegel, die Anzahl von bestimmten Botenstoffen im Gehirn kurzfristig erhöht. Und das kann man optimal vor der Therapie einsetzen, um dann die besten Voraussetzungen für das Ansprechen der Therapie, die dann folgt, zu erreichen – das ist die vierte Komponente. Die fünfte Komponente, die geht jetzt, nachdem wir so viel aktiv gemacht haben, dahin, dass all das, was wir an Aktivität gemacht haben, sich auch festsetzt, konsolidiert. Das machen wir im Schlaf. Nachts schlafen ist ein wichtiger Bestandteil der Rehabilitation. Und auch das ist ein Thema, was wir mit allen Patienten besprechen, dass nur der effektive Schlaf letztendlich dazu führt, dass wir am nächsten Tag wieder etwas besser aufbauend die nächsten Folgen der Therapie durchführen können. Also nachts verfestigt sich das, was wir tagsüber gelernt haben, sowohl an motorischen Aktivitäten als auch eben kognitive Tests und dazu muss man aber eben gut schlafen. Wenn das nicht der Fall ist, dann versuchen wir auch das durch die unterschiedlichen Maßnahmen, die man bei Schlafstörungen einsetzen kann, während des Rehabilitationsaufenthalts zu verbessern. Somit versuchen wir das individuell während der Therapievisite, die am Tag nach der Aufnahme stattfindet, ein Therapieprogramm zu erstellen und das dann während des meistens drei- oder vierwöchigen Aufenthaltes entsprechend durchzuführen.

Der Wechsel von der Reha zurück in den Alltag.

Angy [00:15:53] Ja, vielen Dank. Das war sehr umfangreich und somit auch sehr, sehr verständlich. Es ist ja in der Reha so, dass ich als Patient:in dort sozusagen rundum betreut werde und einen guten Zugang habe zu medizinischem Personal und ich kann mich dort sehr, sehr gut auf mich selbst konzentrieren. Wie nehme ich denn diese Zuversicht dann auch mit in den Alltag?

Prof. Rieckmann [00:16:16] Ganz wichtige Frage. Die Rehabilitation ist ein Schritt auf der Gesundwerdung. Und ich sage das auch jedem Patienten, egal ob MS-Patient, Schlaganfall oder andere Erkrankungen. Bei uns werden Sie nicht gesund entlassen, aber auf dem Weg zur Gesundwerdung begleiten wir Sie ein Stück und versuchen Wege aufzuzeigen, die, wenn Sie individuell daheim fortgeführt werden, eben mit dazu beitragen, dass auch ein nachhaltiger Effekt der Reha, wenn man dann wieder zu Hause ist, auch da ist. Der große Vorteil, den man hat während einer stationären Rehamaßnahme, Sie haben es gesagt, sie sind in einer medizinischen Einrichtung und meistens eben auch und das ist für uns auch ganz wichtig, in einem schönen Ambiente, in einer Umgebung, wo man auch gerne diese Aktivitäten durchführt, aber immer unter der Maßgabe: Was kann ich davon vielleicht zu Hause fortführen? Das ist Teil des Programms, dass wir den Patienten, auch den Therapeuten sagem: „Versucht das herauszukristallisieren, was euch am besten gefällt bzw. den besten Effekt gehabt hat und das möglichst schon für daheim weiter planen.“ Für den einen mag das, das Fitnessstudio sein, für den anderen mag es einzelne Aktivität eben bei den Fachtherapeuten, Physiotherapie, Logopädie, Ergotherapie meistens, zu sein oder aber auch eben Aspekte, die wichtig sind im Hinblick auf Entspannungsverfahren. Wir haben immer auch die Situation, dass Patienten doch sehr innerlich gestresst sind und auch das ist ein Punkt, den wir versuchen mit einzubauen, dass eben die ganzen Aspekte, intensives Training, aber auf der anderen Seite auch Entspannungsverfahren, dieser Ausgleich hergestellt werden sollte. Von Anfang an spielt das oder schwingt das bei all den therapeutischen Bemühungen, auch in der Diskussion bei den Visiten und eben auch die Therapeuten achten darauf immer mit: Was kann ich daheim weitermachen? Also das Ziel ist es eben hier ein Stück weit zu begleiten, aber für daheim Sachen vorzubereiten oder eben zu empfehlen, die dann auch individuell durchgeführt werden können. Es gibt ja mittlerweile ein grünes Rezept, also das ist das Rezept, wo man Sport verordnen kann, und da gehört auch die Multiple Sklerose dazu. Neben den medikamentösen Behandlungen und da habe ich ja am Anfang gesagt, effektive immunmodulatorische Therapie, damit die Entzündung unterdrückt ist und dann darauf aufbauend ein intensives Sportprogramm kann dazu führen, dass das Gehirn quasi, wie ein Muskel trainiert und sich von der Funktion her wieder verbessert. Das ist eigentlich so das Konzept, was dahintersteht. Und da machen wir während der stationären Rehabilitation die einleitenden Maßnahmen dazu, aber das muss eingebettet sein in eine ambulante, dann in dem heimischen Umfeld fortgeführte Aktivität. Also einfach gesprochen, wir können hier wahnsinnig viel erreichen, wenn dann aber der Patient danach sagt: „Na ja, ich setze mich jetzt doch lieber wieder auf die Couch und zappe mich durch verschiedene Programme durch“, dann verpufft der Reha-Effekt meist auch innerhalb von zwei Wochen schon wieder.

Die psychologische Komponente der MS-Erkrankung und das sogenannte „Coping“.

Angy [00:19:29] Es ist ja so, dass die, sage ich mal, die psychologische Komponente gerade bei Menschen, die eine neue MS-Diagnose bekommen, einen sehr, sehr großen Einfluss hat, aber es ist natürlich auch so, dass im weiteren Krankheitsverlauf es immer mal wieder dunkle Phasen geben kann. Wie wichtig ist denn die Psyche und die Eigenmotivation der Patient:innen für den Krankheitsverlauf? Sie hatten ja vorhin schon mal die Motivation auch ganz kurz angesprochen.

Prof. Rieckmann [00:19:57] Das ist eigentlich eine der wichtigsten Komponenten, die psychische Verfassung bzw. die Motivation. Jemand, der noch sehr stark mit dem Schicksal hadert: „Ich habe MS“ und dann eben, nennen wir es bei Namen, depressive Symptome entwickelt, sich nichts mehr traut, viel darüber grübelt – der hat Schwierigkeiten seine innere Kraft zu mobilisieren. Auf der anderen Seite kann ich niemanden motivieren, also „Du musst motiviert sein!“ ist ein Widerspruch in sich. Das muss immer aus einem selbst herauskommen. Und deswegen spielen in der Anfangsphase der Erkrankung, und es ist etwas, was glaube ich noch nicht so bekannt ist: Gerade in der Phase, wo man sich mit der Diagnose vielleicht noch auseinandersetzt – wie plane ich mein Leben weiterhin? – braucht man oft einen Ansprechpartner und manchmal eben auch fachliche Gespräche mit Psychologen oder Psychotherapeuten, die wir ganz stark integrieren bei gerade neuen Patienten, um dieses, wir nennen es „Coping“, also mit der Diagnose leben zu lernen, es anzunehmen und eben nicht zu sagen: „Was geht mir jetzt alles verloren?“ Sondern einfach auch das Potenzial zu sehen: „Was habe ich denn?“, also für mich ist ein Beispiel, was eine Diagnose wie MS auch hervorbringen kann, ein Patient, der mir das selbst mal mitgeteilt hat, den ich lange Zeit über 20 Jahre betreut habe und der immer noch in seinem Beruf aktiv war. Der mir dann mal sagte: „Also rückblickend bin ich Ihnen eigentlich dankbar, dass ich damals die Diagnose MS bekommen habe.“ Da habe ich auch erstmal gestutzt: „Wieso?“ Ja, der hat mir dann gesagt: „Na ja, also das hat mich dazu geführt, dass ich ein bisschen bewusster mein Leben führe, dass ich eben nicht jede Sauftour und nicht das Zigarettenrauchen mitmache und mich immer um meine Ernährung gekümmert habe. Und meine Freunde von damals, die haben jetzt Lungenkrebs, Herzinfarkt. Das habe ich alles nicht bekommen.“ Also, wenn man das so sieht, dass es ein Ruf ist, quasi bewusst sein Leben zu gestalten mit einer Erkrankung, die wir zwar noch nicht heilen können, aber wo wir durchaus sehr gute Möglichkeiten haben, sie medikamentös gut zu stabilisieren und dann das innere Potenzial, was ich alles machen kann durch entsprechende Bewegung und eben Sport bis hin zu dem hochintensiven Intervalltraining, das alles durchführe, dann kann man wahnsinnig viel erreichen. Und das gleich am Anfang klarzumachen, dass es eben nicht darum geht, die Einschränkungen zu sehen, sondern die Möglichkeiten, die müssen im Zentrum stehen. Und das ist natürlich auch unsere Aufgabe als Neurologen. Nur das kann man nicht im klinischen Alltag einer Praxis und manchmal auch schwierig in der Zeit einer ambulanten Vorstellung in einer Fachambulanz erreichen. Da braucht man halt manchmal noch mal zwei Tage später ein Gespräch oder noch mal eine Woche später. Und das ist der Vorteil, dass man das eben im stationären Setting sehr gut machen kann.

Prof. Rieckmanns Tipps, um die Eigenmotivation zurückzugewinnen.

Angy [00:23:01] Da waren so viele tolle Informationen dabei, die ganz viele Fragen bei mir aufwerfen. Genau, ich würde gerne noch mal was zu dem Thema Eigenmotivation nachfragen. Also es ist natürlich jetzt eine reine Unterstellung, aber ich kann mir das jetzt vorstellen, dass Sie vielleicht auch im Laufe Ihrer langjährigen Laufbahn und Erfahrung den ein oder anderen Patienten gesehen haben, der vielleicht wenig Eigenmotivation hatte und dennoch irgendwie bei Ihnen gelandet ist. Gibt es da vielleicht irgendwie eine Empfehlung von Ihnen, wie man diese Eigenmotivation sozusagen wieder zurückgewinnen kann?

Prof. Rieckmann [00:23:36] Also es ist so, dass bei einigen Patienten, so wie Sie es eben angesprochen haben, so eine gewisse Frustration manchmal da ist, die auch, muss ich auch sicher teilen, bei uns Neurologen, die manchmal auch etwas überfordert sind, die Bedürfnisse, die ein Patient, wie gesagt, hat, im Einzelnen mit den verschiedenen Fragen gut umsetzen zu können und dann eben diese Perspektive nicht gut aufgezeigt werden kann. Und dann ist es aber eben ein Zeitpunkt und da können wir uns, wie gesagt, die Zeit nehmen, wenn die Eigenmotivation zumindest dazu geführt hat zu sagen: „Okay, ich gehe jetzt mal in eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme“ und dann lassen wir vieles einfach mal so laufen. Der Kontakt mit Mitpatienten ist manchmal sehr hilfreich. Also es kann in der Einrichtung den ein herunterziehen, aber meistens ist es so, dass die, die mit einer ja nicht so guten Überzeugung hierherkommen – Was kann ich eigentlich für mich tun? – eher positiv angesteckt werden. Wir haben ja mittlerweile nationale Zuweisung aus der ganzen Republik, die hierherkommen und sagen: „Ja, wir wollen das Höhentraining im Berchtesgadener Land machen, haben was von Neuroplastizität gehört“, also es hat sich herumgesprochen in den letzten drei Jahren eigentlich. Und deswegen haben wir auch jetzt immer so einen Patienten-Stammtisch, den wir einfach nur hinstellen, also wir müssen Datenschutz betreiben, wir können nicht sagen, wer was hat, aber die Patienten, die sich da dann treffen wollen, treffen sich und sonst ist erstaunlich, wie schnell Kontakte untereinander auftreten, die wir sehr positiv dafür nutzen können. Bei einigen Patienten ist natürlich auch eine manifeste Depression dabei, die dann auch gegebenenfalls medikamentöser Unterstützung bedarf, aber sehr viel können wir in dem Setting des stationären Rehabilitationsrahmen, wo wir eben viele MS-Patienten auch in unterschiedlichen Stadien der Erkrankung haben, die sich aber meistens sehr gut gegenseitig dort stimulieren. Das hat sich gezeigt und das wissen ja auch viele, der MS-Patienten aus Selbsthilfegruppen, dass man da durchaus positive Aspekte rausziehen kann. Und dann kommt natürlich noch hinzu, dass wir, also muss ich wirklich sagen, super Therapeuten haben, die in der Arbeit mit den Patienten direkt und in der Rückmeldung: „Mensch toll, das geht ja heute schon viel besser“ oder „Mein Gott, du kommst überhaupt nicht voran“, da ist es ganz entscheidend, wie man supportiv, also unterstützend, eben auch kleine Fortschritte den Patienten zurückgespiegelt. Wir haben dafür auch, was sich auch gezeigt hat, was extrem motivationsfördernd ist, ein digitales Assessment-Programm gemacht. Also wir machen nicht mehr den Klassiker oder na ja, machen wir auch noch, die klassische neurologische Untersuchung mit Hammer und Stimmgabel, aber quantitativ sind wir ein Stück weiter insofern, als dass Patienten alle auf einem Smart Device, meistens ein Smartphone, bestimmte Tests machen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten wiederholt werden, wo man sehr differenziert dann sehen kann: Wo läuft es? Wo brauchen wir noch andere Maßgaben? Aber wir immer versuchen, das in Vordergrund zu stellen, was schon geleistet worden ist. Und da sind viele Patienten erstaunt, was geht und wie stark auch die Bereitschaft ist, sich mehr und mehr anzustrengen. Das sagte ich eingangs, man darf durchaus an die Schwelle dessen, was an Belastung möglich ist, gehen. Das sollte dann individuell immer davon abhängig sein, wie rasch man sich erholt. Ich sage es jedem Patienten, mit dem ich darüber spreche: „Wenn Sie sich dann nach so einer intensiven Belastungsphase eine halbe Stunde ausruhen, ist vollkommen in Ordnung. Wenn Sie allerdings den ganzen Tag danach nicht mehr richtig in die Gänge kommen, dann war es zu viel.“ Also so kann man es individuell ganz gut abschätzen.

Warum es um das Potential der Multiplen Sklerose-Betroffenen gehen sollte anstatt um die Defizite und warum das bewusste Erstellen eines Lebensplans ratsam ist.

Angy [00:27:34] Ja, und noch eine zweite Frage, die sich eben noch ergeben hat, ist: Ob Sie der Meinung sind, dass man mehr über Potenzial aufklärt? Das heißt, was zum Beispiel mit MS möglich ist oder wie man vielleicht auch den Verlauf verlangsamen kann, bestimmte Fähigkeiten zu erhalten, als sich eben auf die Defizite zu fokussieren.

Prof. Rieckmann [00:27:55] Ja, eindeutig das erstere, das Potenzial steht im Vordergrund. Es gibt, sage ich immer ganz gerne auch in Vorträgen, einen Satz, der eigentlich heutzutage für jeden MS-Patienten bei der Diagnose gesagt werden sollte. Das heißt, wir haben die Diagnose MS: „Sie haben MS“, also das Kind beim Namen nennen, dann weiß man zumindest, was los ist. Aber Sie haben auch einen Lebensplan, der steht immer im Zentrum und das Ziel ist es, diesen Lebensplan so umzusetzen, als wenn man keine MS hätte bzw. wir als Neurologen oder als Therapeuten allgemein sind dafür verantwortlich, dass dieser Lebensplan so umgesetzt werden kann, also dass das nicht diametral entgegensteht, sondern dass das miteinander vereint werden muss. Da gibt es natürlich dann bestimmte Dinge, die man beachten sollte. Es geht vor allen Dingen um die medikamentösen Therapien, aber heutzutage ist die Diagnose MS zwar weiterhin noch eine lebensbegleitende Erkrankung, aber keine Erkrankung, die jetzt den primären Plan dessen, was ich machen möchte, in Hinblick auf Ausbildung, in Hinblick auf sportliche Aktivität, im Sinne von Familienplanung, berufliche Entwicklung nicht verhindert. Das sollte alles möglich sein, wenn man eben im engen, vertraulichen Austausch mit dem behandelnden Neurologen ist, das ist sehr wichtig, dass man eine gute therapeutische Beziehung da auch hat und dann gegebenenfalls in intensivierten Rehabilitationsaufenthalten zwischendrin das entsprechend umsetzt. Und da kommen wir noch mal zurück auf das, was Sie eingangs sagten, spielt eben diese erste Phase nach der Diagnose eine Rolle. Wie stelle ich mich zu der Erkrankung? Hat die MS mich oder habe ich MS? Aber ich habe eben auch einen Lebensplan und den setzte ich um und um die MS kümmert sich primär mal mein Neurologe, aber der sagt mir auch, was ich selbst dafür tun kann. Und da ist eben eine ganze Menge möglich und ein Großteil dessen versuchen wir während des stationären Aufenthaltes dem Patienten eben auch mitzugeben. Stichwort Ernährung, Stichwort Belastung/Entlastung, Stresslevel reduzieren, Rauchen aufhören, also bestimmte Risikofaktoren kennen wir ja auch für einen ungünstigen Verlauf der MS. Da gibt es eben auch Dinge, wo wir von vornherein drüber aufklären. Also das Ziel ist es, in dieser frühen Phase nach Diagnosestellung den Patienten, ja neudeutsch „Empowerment“, zu geben, dass er auch weiß, worum gehts oder sie weiß, worum es geht: Was kann ich machen? Und eben Engagement. Patient-Engagement ist der zweite Aspekt, den wir dadurch fördern wollen.

Angy [00:30:34] Und werden denn Ärzt:innen ausreichend dafür ausgebildet, auf das „Coping“ bei Patient:innen zu achten, also die Fähigkeit, die Krankheit anzunehmen und mit ihr umzugehen?

Prof. Rieckmann [00:30:44] Das ist ein Thema, was Sie da ansprechen, was man sicher noch stärker in der Ausbildung, nicht nur zum Neurologen, sondern generell für die ärztliche Ausbildung intensivieren oder verbessern sollte. Das ist leider ein Bereich, der im Moment noch nicht so thematisch während der Ausbildung angegangen wird. Und das hat ja auch mit ein Grund, weshalb wir in einem weiteren Podcast ja auch darüber noch mal intensiv sprechen werden. Deswegen will ich es im Einzelnen jetzt nicht näher ausführen, sondern quasi schon Werbung für den Folgepodcast machen.

Die Zusammenarbeit mit Psycholog:innen und Psychotherapeut:innen bei der Diagnose MS.

Angy [00:31:19] Wunderbar! Sie hatten ja auch eben noch in ihrer Ausführung das Thema Depression angesprochen. Da interessiert mich noch, inwieweit Sie eben bei Vorkommen von Depression auch mit Psycholog:innen zusammenarbeiten, um eben auch diese psychische Disposition abzuklopfen?

Prof. Rieckmann [00:31:36] Das ist der Fall. Wir haben sowohl einen Psychologen als auch einen Neuropsychologen, also die, die testpsychologische Untersuchung machen und eben dann auch Psychotherapeuten. Wir planen sogar jetzt ein Projekt, dass wir gezielt auch Psychotherapie bei Multipler Sklerose anbieten. Das ist noch in der Entwicklung, dass es dann schwerpunktmäßig mit bearbeitet werden kann, aber allen Patienten, die dort Bedarf haben, können wir hier dieses Programm zur Verfügung stellen.

Wie man einen Reha-Platz bekommt und worauf dabei geachtet werden sollte.

Angy [00:32:07] Ja, und in einer idealen Welt bekämen Patient:innen regelmäßig und ganz nach individuellem Bedarf Reha-Maßnahmen zugesprochen, aber ganz so einfach ist es natürlich dann meistens doch nicht. Wie kommen denn Betroffene überhaupt an eine Reha und was müssen sie dabei beachten?

Prof. Rieckmann [00:32:23] Ja, erstmal ist ein Reha-Antrag auszufüllen, primär über den Haus- oder über den Facharzt. Und dann je nachdem, richtet es sich nach dem Kostenträger, welche Formulare dafür nötig sind und wie das auch im Einzelnen durchgeführt wird. Bei MS-Patienten, gerade weil es ja doch häufig jüngere Patienten sind, die in ihrem Berufsleben noch stehen, ist es so, dass da primär die Deutsche Rentenversicherung der Kostenträger ist und die dann auch sozusagen die Rehabilitationsmaßnahme anerkennen muss. Der große Vorteil bei der Deutschen Rentenversicherung ist aber natürlich, dass die daran interessiert sind, dass der oder die Patient:in dann auch nach der Rehabilitationsmaßnahme wieder gestärkt in das Berufsleben zurückkehren kann. Deswegen haben wir es durchaus so, dass Patienten, die über die DRV, also Deutsche Rentenversicherung, zu uns kommen, durchaus in regelmäßigen Abständen auch zur Rehabilitationsmaßnahme kommen können. Und das Ziel ist natürlich, dass da eine gewisse Vereinbarkeit dessen, was wir während der Reha erreichen und auch der Möglichkeit im Berufsleben aktiv zu sein, erreicht wird. Es ist in dem Zusammenhang noch ein Punkt anzusprechen, der bei vielen MS-Patienten ja doch eine große Einschränkung der Lebensqualität darstellt und da ist das Stichwort die sogenannte Fatigue. Also eine Müdigkeit, die nicht durch Schlaf allein weggeht, sondern eine bleierne Schwere, die auftreten kann und die sowohl die Gedächtnisfähigkeit oder die Flexibilität beim Denken, Hin- und Herspringen von einem zum anderen Thema, als auch wirklich so eine erhöhte Erschöpfbarkeit letztendlich den körperlichen Funktionen darstellen kann. Und deswegen ist das auch ein Punkt, der während der Rehabilitation sehr intensiv angegangen wird, weil das ein Symptom ist, was viele als Einschränkung dann auch in ihrer beruflichen Ausübung sehen. Und hierfür spielt auch das körperliche Training eine wichtige Rolle. Eine gewisse Abschätzung: wie lange kann ich in Berufsphasen tätig sein, wann brauche ich Pausen? Das ist etwas, was wir oft empfehlen, dass kurze Pausen nach zwei Stunden Tätigkeit in Form von kurzem Recken, Strecken oder auch einer kurzen Atemmeditation oder auch manchmal bei einigen Patienten, die sich wirklich einen Moment dann auch hinlegen müssen. Das ist manchmal am Arbeitsplatz schwer zu vermitteln, aber im Prinzip, wenn die Möglichkeit gegeben ist und so empfehlen wir es auch, sich das umsetzen lässt, der MS-Patient das oft sehr gut, auch in seiner Arbeitsfähigkeit mit integrieren kann. Ein weiterer Punkt zu dem Stichwort Fatigue, deswegen kam ich am Anfang ja auch so intensiv auf die Schlafqualität. Es ist nicht selten, dass Patienten, die eben einen gestörten Nachtschlaf haben – kennen wir alle, dass man dann am nächsten Tag eben auch nicht so fit und eher müde ist. Deswegen spielt auch hier wiederum die Schlafqualität eine wichtige Rolle zusammen mit dem Sportprogramm, denn medikamentös gibt es nicht so sehr viele Möglichkeiten gut evaluierte Medikamente zur Behebung der Fatigue zu geben. Also eine Entspannungsaktivität im richtigen Maße, sportliches Ausdauerprogramm und ein guter Schlaf, den wir versuchen, damit zu mediieren. Jetzt wieder zurück zu der Frage: Wie machen wir das praktisch mit der Rehabilitation? Also das ist etwas, was wir eben dann auch in der Empfehlung, wie die berufliche Tätigkeit gestaltet werden sollte, mit aufschreiben. Und wir schreiben auch immer in den Entlassungsbrief oder geben es den Patienten mit, dass eine Intervall-Reha oder eine erneute Durchführung der Reha-Maßnahme immer dann sinnvoll ist, wenn der Effekt abklingt. Und da wissen wir aus größeren Studien auch zu Erfolgen von Rehabilitationsmaßnahmen bei MS, dass es zwischen zehn und 16 Monaten so ist. Und deswegen sagen wir durchaus Wiederholungsreha im Jahresabstand, das ist nicht unbedingt immer praktisch umsetzbar oder wird nicht immer genehmigt, aber zumindest, wenn man merkt, dass dieser Effekt nach einer gewissen Zeit wieder nachlässt und man es ambulant in der Intensität doch nicht umsetzen kann, dann lohnt es sich, einen erneuten Antrag zu stellen. Das hängt jetzt immer sehr stark vom Kostenträger ab, wie gut man damit durchkommt, aber man hat ein Anrecht darauf und man hat auch ein Wahlrecht, wo man das machen möchte, da kann man dann meistens verschiedene Kliniken angeben. Aber deswegen kommen ja eben auch viele nicht nur aus dem regionalen Bereich, sondern überregional, kann man eine Wunschklinik in der Regel auf dem Rehabilitationsantrag angeben.

Ambulante Rehabilitationseinrichtungen und der Vergleich zu stationären Aufenthalten.

Angy [00:37:29] Okay, das wäre nämlich auch noch meine nächste Frage gewesen, ob man sich die Klinik irgendwie aussuchen kann oder wie man einen Wunsch notieren kann.

Prof. Rieckmann [00:37:37] Das ist richtig, also ein Teil muss immer vom Arzt ausgefüllt werden, ein Teil der Fragen vom Patienten und da kann man auch die Wunschklinik angeben oder Kliniken, das ist das Stichwort, was man angeben kann, Präferenzen für einen bestimmten Standort.

Angy [00:37:51] Jetzt haben wir ja die ganze Zeit über stationäre Reha gesprochen. Haben Sie denn vielleicht auch Informationen, ob es auch ambulante Reha-Möglichkeiten gibt?

Prof. Rieckmann [00:38:00] Ja, es gibt speziell für MS ausgerichtete Rehabilitationen im ambulanten Bereich, ist zwar noch nicht so intensiv ausgebaut, aber es gibt natürlich ambulante neurologische Rehabilitationseinrichtungen, wo auch MS-Patienten im regelmäßigen Abstand hingehen können. Meistens muss man sich aktuell dort erkundigen, wo ambulante neurologische Rehabilitation angeboten wird. Eigentlich ist es in allen größeren Städten meistens vorhanden. Dort kann man auch hingehen, wobei der Schwerpunkt in der ambulanten Rehabilitation meistens gezielt auf ein bestimmtes funktionelles Merkmal ist, also die gesamte Komplexität, wie wir sie versuchen in der stationären Behandlung eben auch einzubauen, ist dann im ambulanten Bereich, in der ambulanten Reha oft nicht so umsetzbar, aber es ist in der Folge nach einem stationären Aufenthalt oder wenn man merkt: „Okay, das Setting insgesamt, ich komme zurecht, aber da habe ich noch Probleme mit Fußheberparese, immer schleift mein Bein hinterher.“, also solche einzelnen Symptome, die man dann im Bereich einer ambulanten Reha auch sehr gut angeben kann.

Prof. Rieckmann erzählt von seiner Arbeit im MS-Zentrum in Vancouver, Kanada.

Angy [00:39:12] Ja, und jetzt wechseln wir noch mal kurz das Thema. Also nicht ganz, aber Sie hatten ja eingangs in Ihrer Vorstellung erzählt, dass Sie ja im schönen British Columbia gearbeitet haben. Und dort haben Sie an der University of British Columbia in Vancouver gearbeitet, leiteten das Multiple Sklerose Zentrum und gründeten eine internationale Forschungsgruppe zur Verbesserung der Versorgung von MS-Patient:innen. Was stand denn dort im Fokus dieser Arbeit?

Prof. Rieckmann [00:39:38] Ja, wir haben dort, das war in den Jahren zwischen 2007 und 2010, vonseiten der kanadischen MS-Gesellschaft, und das war auch eine Stiftungsforschungsprofessur von der kanadischen MS-Gesellschaft, die erreichen wollten, dass die Fortschritte innerhalb der MS-Forschung viel schneller zu den Patienten kommen. Dort wurde dann ein Netzwerk gebildet im Rahmen einer Initiative, das hieß damals „endMS“, also Ende von MS. Ein großes Fundraising wurde gemacht, es wurde viel Geld investiert und dann wurden Zentren gegründet, die letztendlich jüngere Forschende versucht direkt in Verbindung zu bringen mit Ärzten und daraus eben auch schneller klinische Studien, die dann eben dem Patienten zugutekommen, zu generieren. Nicht erst in einer Institution das eine und das andere in der nächsten. Und so hatten wir von Vancouver aus mit Saskatoon, das ist die übernächste Provinz, ein Bridging-Konzept sozusagen gemacht, wo wir an diesen beiden Standorten Ausbildung gemacht haben und auch interdisziplinäre klinische Studien, wo es genau um die Integration dessen, was ich eben gesagt habe ging, also dass sowohl die medikamentöse Therapie, aber auch die Anleitung zu körperlicher Aktivität im Vordergrund stand. In Kanada ist allerdings, muss man dazu sagen, die Möglichkeit zur stationären Rehabilitation sehr, sehr gering. Also das ist vielleicht 1/10 oder noch weniger, vielleicht 1/20 von Einrichtungen, die es überhaupt gibt, bezogen auf die Anzahl der Menschen, die dort leben, wie es in Deutschland der Fall ist. Aber was sie haben, sie haben sehr gut entwickelte Community-Center, wo vieles läuft, von Altenbetreuung bis zu einzelnen Sportgruppen und Begegnungsstätten. Dort haben wir das angesiedelt und dort gab es gerade in Zusammenarbeit mit der Krankengymnastik und mit der Ergotherapie dann so spezielle Programme, wo auch MS-Patienten partizipieren konnten und wo wir versucht haben, diese Effekte möglichst frühzeitig darzustellen Und das lief sehr erfolgreich. Es hat zwar noch nicht dazu geführt, dass MS zu Ende ist, aber es hat vor allen Dingen auch dazu geführt, dass viele junge Menschen, die an Medizin oder an Nervensystemen Interesse haben, gesagt haben: „Ja, wir wollen genau in diesen Einrichtungen arbeiten, weil wir wissen, dass da der Transfer von Grundlagenforschung hinüber zu dem, wovon Patienten dann auch gleichzeitig früher von profitieren können, um diese Zeit einfach zu verkürzen.“ Und das war, also muss ich sagen, eine sehr spannende und interessante Zeit, dort mitarbeiten zu können über diesen Zeitraum. Das hat sehr stark auch das, was ich jetzt gerade hier mache, mitgeprägt oder vorgebahnt, dass ich das irgendwann auch mal hier in Deutschland umsetzen würde.

Schlusswort Prof. Rieckmann.

Angy [00:42:39] Und so sind wir jetzt auch schon fast am Ende unserer ersten Folge angelangt. Haben wir denn aus Ihrer Sicht noch irgendetwas vergessen? Möchten Sie noch etwas hinzufügen oder unseren Zuhörer:innen noch etwas mitgeben zum heutigen Thema, was Sie bis jetzt nicht gesagt haben?

Prof. Rieckmann [00:42:55] Also das Wichtigste, glaube ich, ist, dass MS-Patienten aktiv sein sollten, in jeder Hinsicht. Es gibt viele Angebote, was man machen kann, aber dass die Motivation von innen herauskommen muss, damit es effektiv umgesetzt wird und dass es sicher immer hilfreich ist, wenn man Unterstützung vom Partner in der Familie oder Selbsthilfegruppen hat, aber dann auch etwas für sich zu tun. Wir können immer nur so viel erreichen, wie auch der Patient wirklich will. Das hört sich jetzt ein bisschen komisch an auf der einen Seite, aber wir wissen, und das habe ich eben auch sehr häufig erlebt, dass viele Patienten im Laufe ihrer langen Krankengeschichte mit der MS ein gewisses Maß an Frustration erreicht haben, weil sie vielleicht auch leider viele Negativbeispiele erlebt haben. Aber in jedem Stadium ist eine Rehabilitation und diese Zeit, die man eben doch mehrere Wochen an einem Ort hat, vielleicht eben mit gleichgesinnten bzw. Mitbetroffenen und eben in einem durchaus professionellen Setting darum die Möglichkeit hat, zu sehen, was kann ich denn alles tun, was kann ich wieder erreichen? Das ist sehr hilfreich. Und wenn man das dann einmal erlebt hat, dann ist man auch, denke ich, im Alltag etwas besser vor den Problemen, die dann auftreten, gefeit. Und das ist auch ein sehr schönes Erlebnis, was wir in der Corona-Zeit hatten, als so vieles während des Lockdowns nicht möglich war. Man konnte nicht zur Krankengymnastik gehen, man konnte nicht ins Fitnessstudio gehen oder sonstige Aktivitäten machen. Da haben wir viele Patienten, die dann irgendwann doch mal gesagt haben: „Naja, kann man überhaupt in die Rehaklinik gehen?“ Wir haben sehr früh so ein sicheres Reha-Konzept, also auch Sicherheit in Hinblick auf Schutz vor Infektionen bzw. Hygienemaßnahmen und dergleichen erstellt. Die haben dann gemerkt innerhalb dieser Zeit, was da alles verschüttet war, wie schnell es aber auch wieder kam, wenn man sich dann doch intensiv wieder so einer Trainingseinheit zufügt. Also noch mal: Meistens kann man mehr, als die Patienten selbst glauben. Diese Erfahrung habe ich immer wieder gehört, dass der Patient am Ende sagt: „Mensch, ich wusste gar nicht, dass ich das doch alles schaffe.“ Und Anstrengung, ja, aber neben der Anstrengung kann man letztendlich vieles mit guter Unterstützung durch das therapeutische Setting und ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen dem Arzt erreichen, der einen ambulant betreut, und dem Patienten ist da ganz wichtig. In diesem Rahmen kann man viel erreichen.

Verabschiedung.

Angy [00:45:37] Wie schön. Das ist ein sehr, sehr schöner Schlusssatz. Ich bedanke mich ganz, ganz herzlich bei Ihnen, Prof. Rieckmann, dass Sie sich heute Zeit genommen haben und hier ja in unserem Podcast meine Fragen beantwortet haben. Und sicherlich konnten viele Zuhörerinnen und Zuhörer neue Impulse bekommen. Vielen, vielen Dank.

Prof. Rieckmann [00:45:54] Dankeschön. Es hat mir Spaß gemacht, heute bei Ihnen zu sein und gerne ein andermal wieder.

Angy [00:46:01] Vielen Dank. Ich fand, das war auch ein sehr, sehr spannendes Thema und ich hoffe sehr, dass euch diese Folge gefallen hat und ihr wieder viel Hilfreiches für euch mitnehmen konntet. Wie bereits am Anfang von mir erwähnt und zwischendurch auch von Herrn Prof. Rieckmann, sprechen wir in einer weiteren Folge über das Thema MS und Miteinander Sprechen und ich freue mich schon auf ein weiteres interessantes Gespräch mit Ihnen und sage vielen Dank fürs Zuhören.

Angy [00:46:26] Vielen Dank, dass Du uns heute zugehört hast. Du hast Anregungen, Themenvorschläge oder möchtest selbst Teil des Podcasts werden und deine Geschichte mit uns teilen? Dann schreib uns per E-Mail oder direkt auf Instagram. Im Beschreibungstext findest du alle weiteren Informationen und Adressen. Wir freuen uns auf dich.

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