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Es war Weihnachten 2016 und ich hatte einen Infekt nach dem anderen. Eines Morgens bin ich aufgewacht und meine Schienbeine haben sich „falsch“ angefühlt. Es fühlte sich an, als wären sie aus Watte und ich habe es als kalt empfunden, wenn ich Stoff darüber gezogen habe. Das Gefühl wanderte mit der Zeit weiter hoch, erst zum Knie, dann Richtung Oberschenkel. Als es über den Bauch ging, waren auch Blase und Darm betroffen, was dazu führte, dass ich nicht mehr richtig zur Toilette gehen konnte. Als es den Brustkorb erreichte, bekam ich Angst, was passieren könnte, wenn es auf die Höhe der Lunge steigt – aber da blieb es damals stehen. Ich bin zu meiner Hausärztin gegangen, die mich sofort zum Neurologen überwiesen hat, der mich jedoch wieder wegschickte. Beim nächsten Besuch bei meiner Hausärztin, hat sie mich ins Krankenhaus überwiesen. Dort wurde ich komplett durch die Mangel gedreht. Es wurde alles aufgefahren an Diagnostik, was ein Krankenhaus zu bieten hat, jeden Tag mehr. Und ich wusste eigentlich bis zum Ende nicht, was ich habe. Die Ärzte haben es lange nicht ausgesprochen. Da meine Frau im Krankenhaus als Krankenschwester arbeitet, hat sie dann eines Abends zu mir gesagt: Du weißt schon, dass das MS ist? Und so habe ich meine Diagnose gekriegt.
Die MS ist eine irrationale Erkrankung, sie ist nicht logisch. Sie macht, was sie will. Du kannst zwar versuchen, selbst wirksam zu sein, dich gesund zu ernähren und Sport zu machen, aber es gibt keine Garantie dafür, dass die MS nicht doch aktiv verläuft. Sie ist schubförmig und am Ende des Tages weißt du nie, warum ein Schub kommt. Vielleicht war es zu viel Stress, vielleicht ist es auch einfach nur so passiert, vielleicht hast du auch gar keine Schübe. Ich sage immer: Meine MS war am Anfang ein Drachen, den ich nicht kontrollieren konnte, heute ist sie mein Schoßhündchen. Ich sitze da, streichle sie und wir sind gute Freunde.
Es ist auch wichtig zu verstehen, dass eine MS keine Erkrankung ist, über die in einer Woche entschieden werden muss. Die hat man sein ganzes Leben lang. Am Anfang neigt man dazu völlig kopflos und panisch zu reagieren. Aber so schnell geht das nicht und es ist auch nicht nötig, weil sich der Zustand meist nicht so schnell verschlechtert und es auch in der Regel nicht so schnell besser wird. Man sollte auf jeden Fall die Ruhe bewahren und sich Zeit lassen Entscheidungen zu treffen.
Mein Kernsymptom war dieses aufsteigende Taubheitsgefühl. Da muss ich sagen, das ging relativ zügig: Innerhalb von ein bis zwei Monaten war es schon am Brustkorb angekommen und alles darunter war taub. Was ich in der ganzen Aufregung nicht gesehen habe ist, dass es neben den körperlichen Symptomen auch noch eine kognitive Komponente gab. Was ich schon vor der Diagnose bemerkt habe ist, dass ich ab und an mal was vergessen habe und das wurde dann im Verlauf präsent. Das Kurzzeitgedächtnis wurde löchriger. Das kompensiere ich mit ganz vielen Post-its, Kalendernotizen und -einträgen, um die Struktur zu erhalten.
Ich hatte auch noch andere Symptome, die ich beängstigend fand. Da war zum Beispiel das halbseitige Schwitzen. Ich hatte auch halbseitige Gänsehaut. Man guckt auf seinen linken Arm, da ist Gänsehaut und auf der rechten Seite nicht. Das sieht keiner, das tut mir nicht weh, aber das waren die Symptome, die mir am meisten Angst gemacht haben. Vor allem, weil ich dachte: Jetzt hast du die Kontrolle über deinen Körper verloren.
Ein Großteil meiner Freunde arbeitet im Krankenhaus und wussten es dann schon relativ schnell. Ganz schwierig waren meine Eltern. Sie hatten beide das Gefühl, dass es unfair ist. Dass ihr Kind, was ja eigentlich jung und gesund sein sollte, im Gegensatz zu ihnen chronisch krank ist. Im Prinzip musste ich meine Eltern trösten, weil sie diese Situation grausam fanden. Sie sind Mitbetroffene. Und die beiden hatten auch nur die gängigen Vorurteile über MS im Kopf, die viele haben. Das heißt sie haben sofort gedacht: Pflegefall, Rollstuhl, etc. Eigentlich musste ich meine Eltern dann – obwohl ich die Vorstellung auch hatte – davon abbringen. Das Leben kann normal weitergehen. Ich war immer im Zwiespalt, ihnen meine MS einerseits schonungslos beizubringen, sie aber andererseits nicht weiter zu verunsichern.
Genau das ist das Problem. Wenn wir uns jetzt so unterhalten, merkt man es mir ja auch nicht an. Und in der Regel trage ich meine MS und meine Symptome auch nicht auf einem Schild vor mir her. Man weiß nie, wie dein Gegenüber reagiert. Es gibt Leute, die sind verständnisvoll, respektvoll und offen. Das ist das, was ich erwarten würde. Aber es gibt auch Leute, die haben vorgefertigte Meinungen und gut gemeinte Ratschläge. Das ist immer ein Problem, denn man möchte irgendwann einfach keine gut gemeinten Ratschläge mehr hören. Das ist anstrengend und um das zu umschiffen, sage ich meistens „Ja, ich habe MS, aber ich komme gut klar“. Das vermeidet schon mal die Ratschläge. Und ich höre einfach genau hin: Ist jemand wirklich interessiert und offen oder sagt jemand sofort: Ja, ich bin auch manchmal müde und ja, mein Bein schläft auch manchmal ein? Dann bin ich inzwischen pragmatisch und will meine Energie gar nicht daran verschwenden jemanden zu bekehren, bei dem es wahrscheinlich sowieso nicht klappt. Ich bin nicht der Missionar meine Erkrankung und sage mir dann einfach: Okay, komm, lass den mal in Ruhe.
Definitiv. Die MS zwingt einen in eine Bilanzstimmung, die man vorher nicht hatte. Die Tendenz hat sich sehr verändert: Von „Könnte man mal machen“ zu „Wir machen das jetzt und sofort“. Ich bin mir des Lebens deutlich bewusster geworden. Ich bin mir jetzt auch bewusst, dass ich eventuell irgendwann nicht mehr alles kann. Also setzte ich um, was ich jetzt kann. Ich plane nicht mehr so weit in die Zukunft. Die Momente, die ich jetzt habe, genieße ich deutlich mehr. Es ist nicht mehr selbstverständlich zu sagen, dass ich zu Fuß einen Berg hochlaufen kann. Ich weiß, es kann eine Zeit kommen, in der ist das vielleicht nicht möglich ist. Aber gerade kann ich es, also mache ich es auch – und zwar jetzt. Ich bin also etwas aktiver und auf jeden Fall auch positiver geworden. Negative Sachen wurden im Hinterkopf genug abgespeichert und ich versuche diese dann mit positiven Aspekten zu überfüllen, damit das Negative in den Hintergrund tritt.
Angst war der dominierende Faktor am Anfang und das ist auch wirklich der Grund gewesen, warum ich am Anfang total blockiert war. Man kann keine Zukunftsplanungen machen, bei denen man sich überlegt „Will ich nächstes Jahr in den Urlaub fahren?“, wenn man nicht weiß, ob man nicht vielleicht im Rollstuhl sitzt. Du kannst nicht mehr sagen: „Nächstes Jahr fahre ich in die Alpen“, wenn du genau weißt, es wäre möglich, dass du dann nicht laufen kannst. Man kann so etwas nicht mehr mit ruhigen Gewissen planen. Angst hat am Anfang alles blockiert und ehrlich gesagt, die Angst wurde nur durch die Psychotherapie aufgelöst und eine funktionierende Therapie der MS. Ich hätte es allein nicht geschafft. Allein wäre ich da wahrscheinlich nicht rausgekommen, weil diese Blockade so stark war. Es gibt Fragen, die stellt dir das Leben – zu Trennung, Trauer, etc. – da sagst du noch: „Ja, ich komme da irgendwie allein mit klar“. Aber auf manche Fragen, wie zum Beispiel: „Wie ist das, wenn du in einem Jahr im Rollstuhl sitzt?“, auf solche Fragen hatte ich keine Antwort. Also ich konnte keine Antworten für mich selbst finden. Ich musste jemand anderes fragen und hoffen, dass sie bessere Antworten haben als ich.
Es bleibt beim Schoßhündchen. Es ist so, dass ich immer Umgehungsstrategien brauche. Also ich weiß zum Beispiel, dass meine Trigger: Stress oder körperliche Anstrengung sind. Du kannst Stress nicht immer kontrollieren. Aber die Frage ist: Will ich mich bei allem aufs Letzte streiten oder umgehe ich auch einfach mal Konflikte und lege es von vornherein nicht drauf an? Du brauchst eine Strategie, dein Leben nicht in Extremen zu führen. Mit MS kann man nicht immer 100 Prozent Gas geben. Der Akku ist irgendwann leer und man muss runter vom Gas gehen. An den Tagen, an denen es dir gut geht, musst du auf der Welle deiner Energie surfen. Und an den Tagen, an denen es dir schlecht geht, da musst du einfach langsamer machen. Da mache ich dann Monotasking und nicht Multitasking und konzentriere mich am besten auf eine Sache.
Ich würde mir wünschen, ich könnte eine allgemeingültige Strategie geben, aber die Strategie ist für jeden sehr individuell, abhängig davon, was die Leute stresst. Für mich ist es eine super Methode z.B. Whats-App-Gruppen auf stumm zu schalten, die mich nerven. Das kann mir sehr viel bringen.
Während meiner Psychotherapie habe ich auch gelernt, auf das Positive zu gucken und nicht immer nur das Negative zu betonen. Das nimmt viel Stress. Außerdem suche ich mir im Supermarkt nicht mehr die kürzeste Schlange an der Kasse und ärgere mich, dass es trotzdem am längsten dauert. Ich stelle mich absichtlich an die längste Schlange an der Kasse und gucke einfach, was die Leute vor mir einkaufen. Dann verbringe ich meine Zeit damit, mir zu überlegen, was man wohl aus einer Fertigpizza, einer Flasche Wodka und einer Stange Zigaretten noch für einen tollen Abend fabrizieren kann. Und da gewinne ich Zeit und Ruhe. Man muss immer versuchen im stressigen Alltag Ruheinseln für sich zu finden und diese dann auch wirklich zu beanspruchen, um sich nicht mittreiben zu lassen.
Du denkst, du hast eine neurologische Krankheit, gehst damit zum Neurologen, der schreibt dir Tabletten auf und dann geht es wieder nach Hause. Aber das ist nur ein Teil der Behandlung. Diese medikamentöse Behandlung ist nicht annähernd der ganzheitliche Ansatz einer MS-Behandlung. Das liegt auch an den 1000 verschiedenen Gesichtern und den Symptomen, dass man an ganz vielen verschiedenen Stellen angreifen kann.
Die Physiotherapie ist sehr hilfreich und auch gängig. Da kommt irgendwann jeder drauf, dass er, wenn er nicht richtig laufen kann oder sich nicht gut bewegt, dorthin geht.
Mir hat die Psychotherapie gerade am Anfang sehr geholfen. Ich habe eine gemacht, weil ich nicht weiterwusste. Es ist etwas ganz anderes, Freunden zu erzählen, was deine Probleme sind, weil sie oft Angst haben, dir etwas ehrlich zu sagen. Es könnte dich ja verletzen und das wollen sie vielleicht nicht. Und wenn du zur Psychotherapie gehst, bekommst du einen objektiven Blick auf dich zurückgegeben. Das ist manchmal Gold wert, weil man so besser das eigene Verhalten reflektieren kann. Das ist sehr hilfreich, um an seinen Problemen zu arbeiten und weiterzukommen.
Die Ergotherapie zum Beispiel hatte ich am Anfang nicht auf dem Schirm. Dabei ist es ein wichtiges Instrument, wenn man kognitive Defizite hat. Leute mit Griffstörungen, die ihre Hände nicht richtig bewegen können, können in der Ergotherapie etwas lernen.
Es gibt noch Hippotherapie, etc., es gibt ganz, ganz viele Möglichkeiten. Und je nach Persönlichkeit, muss es einem natürlich gefallen. Man muss etwas damit anfangen können. Aber man kann auf jeden Fall viel machen und im Zweifelsfall sollte man das auch tun, weil es einem in der Regel immer hilft.
Gehe positiv an die MS heran und nimm dir Zeit.
Versuche dich positiv mit der MS und anderen Betroffene auseinanderzusetzen. Bewahre grade am Anfang die Ruhe und lasse dir Zeit, Entscheidungen zu treffen.
Informiere dich über seriöse Quellen.
Es gibt einige seriöse Quellen, an denen du dich orientieren solltest. Vermeide es gerade am Anfang zu googeln oder in Foren nach Antworten zu suchen, da die Informationen irreführend sein können.
Sprich mit anderen Erkrankten, die auf deiner Wellenlänge schwimmen.
Andere Betroffene können am besten nachempfinden, wie du dich fühlst. Daher kann es sehr hilfreich sein, sich mit anderen Erkrankten austauschen. Aber es ist wichtig, dass sie auf deiner Wellenlänge sind und positiv an die Erkrankung rangehen.
Professionelle Hilfe kann vieles bewirken.
Es gibt viele verschiedene begleitende Therapiemöglichkeiten. Gerade am Anfang kann eine Psychotherapie besonders hilfreich sein, um sich mit der Diagnose auseinanderzusetzen. Weitere Angebote umfassen unter anderem Physio- oder Ergotherapie, welche dir beispielsweise bei Bewegungs- und Griffstörungen helfen können.
Freunde & Bekannte sind keine MS-Profis
Lasse dich nicht von Ratschlägen von Außenstehenden ablenken, sondern höre lieber auf professionelle Personen wie Ärzte oder deine MS-Nurse, die sich mit der Erkrankung auskennen.
Offenheit und Respekt sind das A und O
Du solltest Betroffenen zuhören und ihnen offen entgegentreten. Die Betroffenen sind Experten für ihre Erkrankung und wissen am besten, was ihnen in bestimmten Situationen hilft.
Denk dran: MS ist nicht gleich MS
MS ist die Krankheit der 1.000 Gesichter – bei jedem verläuft sie unterschiedlich. Daher solltest du es vermeiden, voreilige Schlüsse zu ziehen, vorgefasste Meinungen zu vertreten und Verläufe von Betroffenen miteinander zu vergleichen. Der Satz „Du siehst heute richtig gut aus, man sieht dir gar nicht an, dass du MS hast“ ist bestimmt gut gemeint, aber das Aussehen verrät nicht wie es deinem Gegenüber gerade wirklich geht. Viele Symptome der MS sind unsichtbar.
Nicht über die Betroffenen, sondern MIT ihnen reden
Auch wenn man sich oft nicht traut, Menschen auf Krankheiten anzusprechen, weil man Angst vor der Reaktion hat, ist Offenheit oft der beste Weg. Du solltest daher mit den Betroffenen und nicht über sie reden.
MS Betroffene erwarten nicht, dass du dich mit allen chronischen Erkrankungen auskennst
Es gibt viele verschiedene chronische Erkrankungen. Und wenn man nicht selbst betroffen ist, kennt man sich oft nicht aus. Das ist aber völlig in Ordnung. MS Betroffene erwarten nicht, dass du alles weißt, aber es ist wichtig, dass du ihnen zuhörst.